GASTSTÄTTENNACHRUF

Und eines Tages waren sie weg.

 

Das halbe Jahr vor diesem Einschnitt bekam ich noch mit, wie die Schmalvogels den Nachfolger einwiesen in die Geheimnisse des Etablissements, um die Kulthaftigkeit auf ewig zu bewahren: Die Frau Schmalvogel verriet dem Neuen sogar das bis dahin bestgehütete Geheimrezept der unvergesslichen Knoblauchsuppe und stellte ihm auch die markantesten Stammkunden vor. Auch ich durfte mich dazu zählen.

 

Dann kam die Zeit als sie endgültig fort waren, die Schmalvogels. Abgetaucht in die steirische Heimat. Und mit ihnen schien der Kult trotz aller Bemühungen schlagartig erloschen und nur mehr die Erinnerungen waren geblieben:

 

Da gab es zuerst die ominöse Eingangstüre. Sie war stets verschlossen. Man musste die flache Hand auf das gelbgetönte Glas der Türe legen, gleichsam als Geheimcode für den Zutritt in das erlauchte Keller-Reich. Jeder durfte dort schließlich nicht hinein. Der Herr Schmalvogel, Patron und Wächter seines ganz persönlichen Tisches neben der winzigen Ausschank betätigte mit strengem Blick eine spezielle Vorrichtung, um die Türe zu entriegeln ohne dabei aufstehen zu müssen. Ein uralter Säbel steckte neben dem Tischchen und hatte am Griff ein dünnes Seil befestigt, das entlang der Wand über die Decke bis zur Türschnalle führte. Der Herrscher zog am Säbel und die Türe sprang auf. Erst ein scharfer Blick auf die Neuankömmlinge und dann folgte das kurze Kommando an die beiden Hunde zu seinen Füßen, das Frischfleisch nicht anzugreifen. Eine andere Tätigkeit war ihm nicht zugeteilt gewesen. Das füllte ihn aus und genügte, ihn den Tyrannen spielen zu lassen, obwohl er in Wahrheit eine bärbeißige Väterlichkeit ausstrahlte, wenn man ihn kannte. Auch der Instinkt der beiden Deutschen Kurzhaar-Hunde hatte längst nichts mehr mit Jagd zu tun. Denen war alles egal. 

 

Ich musste nie gehen, weil ich brav war. Und so durfte ich so manches „Sit in“ miterleben und hatte einen Sessel. Immerhin war ich der Autor des „Schmalvogel-Liedes“, was mir sowohl zur Ehre gereichte, sich aber auch gelegentlich als Fluch erwies. Ich hatte mir damit nämlich die unbedingte Verpflichtung eingehandelt, dieses Lied jedes Mal auf Zuruf zu spielen, ob ich wollte oder nicht. Frau Schmalvogel hatte stets darauf bestanden und brachte mir mit ritueller Beständigkeit während des Vortrages lächelnd das Gratisgetränk zur Belohnung. War ich knapp bei Kassa spielte ich das Lied eben zwei oder drei Mal pro Abend. Mutter durchschaute das natürlich und goutierte meine Schnorrerei. Auf die paar Gratis-Vierteln kam es ihr nicht an.

 

Ach, wie oft musste ich im Morgenverkehr direkt vom Schmalvogel in die Arbeit fahren!

 

Einmal durfte ich – nach entsprechendem Befehl - beim Privattisch des Herren sitzen und sogar auch den Säbel bedienen. Dabei kriegte ich mit, was in den braunen Kaffeehaustassen, aus denen der Gebieter ständig trank, tatsächlich enthalten war: Es war heißer Schnaps mit einem Teesackerl drinnen.

 

Die Schmalvogels sind mittlerweile längst gestorben und wir, die erlauchtesten Gäste, hatten sie nie daheim in der Steiermark besucht. Man hatte es immer aufgeschoben bis es zu spät war.

Ein paar Mal war ich noch bei eben jenem Nachfolger im „Schmalvogel“, der den Kult übernommen hatte. Auch der Name des Lokals musste vertraglich beibehalten werden.

 

Aber es war nicht mehr so wie früher. Wir saßen da drinnen und Wehmut kam auf. Die Knoblauchsuppe war – wohl nach Rezept gemacht - weit nicht so gut wie die der Frau Schmalvogel. Die Planketten hingen noch an der Wand, aber die Menschen dazu ließen sich immer weniger blicken. Denen ging es wahrscheinlich genau wie mir.

 

Die Seelen waren weg und hinterließen bloß Erinnerung.